Von Eva-Maria Wiegel
Der folgende Beitrag befasst sich mit Hintergründen und Auswirkungen der
gegenwärtig völlig überhitzten "Kampfhunddebatte" und zeigt langfristige
Schäden auf, die leider kaum bedacht werden: Entwicklungsstörungen an
Kindern durch Verunsicherung, Hysterie und Panik in Familien, soziale
Spannungen, die durch die Polarisierung und Diskriminierung entstanden,
und die Schwierigkeit der Zuständigen, der tatsächlichen Gefahr durch
aggressive "Kampfhunde" und deren oft kriminelle Halter Herr zu werden.
Schon in DEUTSCHE POLIZEI 5/89 hatte die Verfasserin im Beitrag "Killer
und Kuscheltiere" auf die Gefahren hingewiesen, die von den "Waffen mit
den tonnenstarken Schnappschlossgebissen", den hochaggressiven
Statussymbolen meist krimineller Halter aus dem Milieu ausgehen, und
Techniken beschrieben, mit denen durch genetische Auslese von Tieren mit
niedriger Hemmschwelle und brutale Trainingsmethoden tierische
Psychopathen werden, Spiegelbilder ihrer Halter.
Killer außer Kontrolle - sie morden, hetzen, reißen ... .
"Angst vor den Beiß-Bestien", "Killer-Kampfhunde wüten in Deutschland"
... so und ähnlich titelten wochenlang Boulevardblätter und bisher
seriöse Tages- und Wochenzeitungen gleichermaßen auf niedrigstem Niveau.
Zahlreiche Journalisten und Moderatoren, die dazu beitragen, die
Emotionen täglich anzuheizen, vermischen unkritisch eigene Emotionen mit
Fakten, fordern einträchtig das Ausrotten, Einschläfern, Kastrieren und
Wegsperren der Killerbestien, aller Hunde der so unselig als "Kampfhunde"
etikettierten und verteufelten Rassen und deren Abkömmlinge. Doch damit
nicht genug - selbst bisher unbescholtene Rassen geraten, abhängig von
Größe und Gewicht, mit in Verruf, unberechenbare potenzielle Waffen in
den Händen ihrer Halterinnen und Halter zu sein. Führende Politiker aller
Parteien nutzen die aufgeheizte Debatte für kraftvolle
Selbstdarstellungen und versprechen Abhilfe durch schnelle Verordnungen.
Für viele Besonnene ist die entstandene Hysterie, die den Volkszorn
nährt, unerklärlich. Es scheint, dass die Aufheizung der Emotionen durch
Medien und Politiker gerade zu diesem Zeitpunkt tiefere Ursachen hat. In
der gegenwärtigen Situation, in der viele Bundesbürger zunehmend
unzufriedener sind mit dem Verhalten von Politikern und mit sozial- und
arbeitsmarktpolitischen Entwicklungen, ist es politisch taktisch
geschickt, die frustrationsbedingte Aggressivität umzuleiten und gegen
ein gemeinsames Feindbild zu richten, um der Bevölkerung politische
Stärke, Handlungswillen und Kompetenz der Zuständigen zu signalisieren.
Hunde eignen sich besonders als Hassobjekte, weil sich durch die
tragischen Ereignisse und die reißerische Berichterstattung die Urangst
der Menschen vor der unbezähmbaren wölfischen Kreatur leicht mobilisieren
lässt.
Der kollektive Ruf nach Schutz von Menschen, speziell von Kindern, ist
sehr berechtigt, aber es macht misstrauisch, dass die öffentliche
Empörung ausblieb, als fast zeitgleich mit dem Tod Volkans sechs Kinder
aus verschiedenen Familien nach Elternstreitigkeiten von ihren Vätern im
Schlaf umgebracht wurden - was leider kein Einzelgeschehen mehr ist - und
als in den neuen Bundesländern immer wieder ausländische Mitbürger
bestialisch ermordet wurden.
Auch ist die immer wieder betonte Aussage vieler Verantwortlicher
verdächtig und unverantwortlich, es könne bei den notwendigen Maßnahmen
zum Schutz von Menschen, vor allem von Kindern, weniger um die
Maßregelung der Halter gehen als um die Beseitigung gefährlicher Hunde:
Im vergangenen Jahr starben (nach vorläufigen Angaben des Statistischen
Bundesamtes) in Deutschland 318 Kinder im Straßenverkehr, 48.838 wurden
verletzt. Den Blick primär auf die Hunde statt auf die unfähigen
beziehungsweise kriminellen Halter aggressiver Tiere zu lenken ist so,
als würde der Gesetzgeber einem PKW-Fahrer, der mit überhöhter
Geschwindigkeit die Gefährdung von Menschen in Kauf nimmt, lediglich das
PS-starke Fahrzeug wegnehmen, um ihn an weiteren Verkehrsgefährdungen zu
hindern.
Leider wird in der oft reißerischen Berichterstattung fast immer
verschwiegen, dass, wie in Hamburg, aggressive Hunde meist auf Befehl
oder mit Billigung ihrer Halter gehandelt haben.
Hilflose Maßnahmen mit schlimmen Folgen: das Problem am oberen Ende
der Leine
Der Tod des kleinen Volkan und die oft grausam entstellten Opfer
aggressiver Hunde sind allerdings nur die letzten tragischen Ereignisse
in einer langen, traurigen Statistik.
Unbestritten ist, dass ein Teil der jetzt auch als "Kampfhunde"
diskriminierten Rassen wie Rottweiler oder Dobermänner seit Jahrzehnten
in vielen Sicherheitsbereichen wertvolle Arbeit als Schutz-, Wach- und
Spürhunde tun. Damit bescheinigte der Gesetzgeber diesen Rassen doch,
wenn sie tierschutzgerecht und verantwortungsbewusst gehalten werden,
seit langem die Unbedenklichkeit. Seit Jahrzehnten aber fordern
Tierärzte, Fachleute aus Tierschutzorganisationen und seriösen
Zuchtverbänden schärfere Einfuhr- und Zuchtkontrollbestimmungen für Hunde
aller Rassen, beklagen Polizeibeamte die Gefährdung durch aggressive
Hunde zum Beispiel bei Personenkontrollen oder Haus- und
Wohnungsdurchsuchungen. Lange schon ist bekannt, dass "Kampfhunde"
zunehmend häufiger als Prestigeobjekte und Waffen im subkulturellen
Milieu der deutschen Großstädte auch von jungen, arbeitslosen in- und
ausländischen Männern eingesetzt werden. Auch Zuchtverbände ließen es
tatenlos geschehen, dass in Inseraten ihrer Verbandszeitungen
gewissenlose Hundevermehrer ungeniert mit der "Kehlschärfe ihrer
Produkte" warben. Seit langem ist bekannt, dass Polizeibeamte mit der
Überwachung der Einhaltung der Gefahrtierverordnung personell, von der
Ausbildung und technischen Ausrüstung her überfordert waren.
Viele Kommunen führten zur Reduzierung der als "Kampfhunde" aufgeführten
Rassen nach dem Bericht des Deutschen Städtetages und entsprechenden
Verwaltungsgerichtsurteilen die "Kampfhundsteuer" ein. Diese willkommene
Erhöhung kommunaler Steuereinnahmen führte bundesweit vielfach zum
gegenteiligen Effekt: Da gerade in Großstädten viele Hunde der
betreffenden Rassen nicht angemeldet waren oder ihre Besitzer von der
Sozialhilfe lebten, führte die Maßnahme vorrangig zur Diskriminierung
seriöser Hundehalter und ihrer Tiere und zur Verbreitung von Angst in der
Bevölkerung.
Weniger Betuchte konnten ihre Hunde nicht mehr halten, brachten sie ins
Tierheim, andere gaben ihre unbescholtenen Hunde unter dem Druck von
Hauswirten und Wohnungsnachbarn ab.
Halter aus dem Milieu aber sahen in der Sondersteuer einen willkommenen
Prestigezuwachs, aus dem sie weitere Rechte für antisoziale
Verhaltensweisen ableiteten.
Unklar ist jetzt auch für Verwaltungsleiter der Gefahrenabwehrbehörden
und Polizeibeamte, ob und wie sich die neuen "Kampfhundverordnungen"
sinnvoll durchsetzen lassen können, denn es gibt Hinweise darauf, dass
sie ihre Ziele nur sehr unbefriedigend erreichen:
a) Wer ist behördlicherseits überhaupt in der Lage, Mischlinge
einwandfrei zu identifizieren, falls der Halter keinen bzw. einen
falschen Abstammungsnachweis erbringt?
b) Viele Halter aggressiver Tiere der Gefahrgruppe 1 haben ihre Hunde gar
nicht angemeldet und können nicht erfasst werden, falls sie nicht durch
Dritte denunziert werden, was im Milieu kaum zu erwarten ist.
In Berlin spotten Halter aggressiver Hunde, sie würden abwarten, bis "das
Gewitter vorbei" sei. Manche erhöhen jetzt an den informellen
"Kampfhundbörsen" der Großstädte ihren Bestand, ehe der Nachschub rar und
teurer wird, oder weichen längst auf andere Hunderassen aus, denn mit
brutalen Methoden wie Schlägen, Isolation und Verstümmelung vom
Welpenalter an kann jeder Hund über den unbedingten Gehorsam zur
tödlichen Waffe werden.
Manche weichen in die neuen Bundesländer aus, um auf einsamen Resthöfen
ungestört Nachschub weiterzüchten und trainieren zu können. Halter
beschlagnahmter Hunde engagieren Mittelsmänner mit
Unbedenklichkeitszeugnissen, um ihre Hunde aus den Tierheimen
wiederzubeschaffen, die dann als vermisst gemeldet werden.
Kriminelle Halter werden sich Unbedenklichkeitsbescheinigungen, Papiere
und Leuchtplaketten wie in Berlin durch Diebstahl oder Kauf verschaffen.
Sie interpretieren die Maulkorbpflicht als Statussymbol und trainieren
ihre Kampfmaschinen weiterhin tagsüber in öffentlichen Parks, vermehrt
unter Einsatz gestohlener Hunde und Katzen aus Privatbesitz, die als
Trainingsopfer eingesetzt und zerfleischt von Passanten gefunden werden.
Unsichtbare Schäden: Tierschutz ist auch Kinderschutz
Aus dem Schmusehund in der Werbung, dem Superhund der TV-Folgen, dem
freundlichen Nachbarshund ist für viele Kinder mit einem Mal die Bestie
geworden, die auf morden aus ist. Die zahllosen Bilder von
zähnestarrenden, aufgerissenen Rachen und geifernden Muskelpaketen, die
sich mit blutunterlaufenen Augen in eiserne Gitterstäbe verbeißen, die
Fotos der erschossenen Hunde neben dem toten Kind, die Bilder bis zur
Unkenntlichkeit entstellter menschlicher Gesichter verängstigen gerade
jüngere Kinder, die noch nicht zwischen Realität und Fernsehen
unterscheiden, und können zu nächtlichen Alpträumen, Panikattacken,
Hundephobien, zu Unruhe und erhöhter Aggressivität führen.
Aus der starken Verunsicherung, durch Panikmache und Sensationsgier
verursacht, entsteht durch das Gefühl der Schutzlosigkeit leicht
übersteigerte Angst, vor allem wenn die Angst, wie das häufig geschieht,
auf alle Hunderassen generalisiert wird. Kindertherapeuten wissen, dass
es meist nicht die Kinder sind, die zuerst Ängste haben, sondern dass
ihre Eltern sie übertragen.
Erleben Kinder ihre Eltern als grundlegend verunsichert, entwickelt sich
beim Kind das Gefühl starker, andauernder Bedrohung, denn gerade kleine
Kinder sind in Vorstellungen, im Fühlen und Handeln sehr abhängig von
elterlichen Gefühlen und Einstellungen. Es ist bekannt, dass Kinder
Extremsituationen wie Kriege und Katastrophen schadlos überstehen, wenn
sie an ihren Eltern ein Grundvertrauen zur Umwelt erleben.
Speziell Eltern mit hohem Angstniveau und hoher Aggressivitätshemmung
versuchen, ihre Kinder möglichst vor allen potenziell gefährlichen
Alltagssituationen zu bewahren, doch derart überbehütete Kinder haben
kaum eine Chance, ihre Umwelt eigenständig zu erkunden und lebenstüchtig
zu werden, indem sie lernen, mit Risiken selbstsicher, flexibel und
angemessen umzugehen.
Vermeiden ist jedoch eine nur sehr bedingt taugliche Form der
Angstbewältigung, und es ist unmöglich, Hunden im normalen Alltag nicht
zu begegnen. Zudem besteht durch angstvolles Weglaufen vor Hunden die
Gefahr, deren Jagdinstinkt auszulösen und zum Opfer zu werden.
Überängstliche Eltern neigen oft zu überzogenen Sicherheitsforderungen an
Behörden, erwarten von ihnen möglichst alle Lebensrisiken auszuschalten,
wie im gerade veröffentlichten Vorwurf eines Stadtelternrates: "... es
ist an kaum einer der städtischen Schulen das Schulgelände derart
abgesichert, dass die Wiederholung eines solch tragischen Falles wie in
Hamburg mit größter Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden könnte ..."
In Familien, die sich extrem bedroht und ungeschützt fühlen, kommt es
leicht zu angstbedingten Wahrnehmungsverzerrungen aller Mitglieder.
Reißerische Medienberichte über Angriffe von Tieren auf Menschen
bestärken und verfestigen die gemeinsamen Vorurteile.
Für solche Familien sind Berichte über das Verhalten traumatisierter
Eltern, deren Kinder Opfer von Hundeangriffen geworden sind, Vorbild und
Verstärker: Durch Rückzug aus der Umwelt und Kontaktvermeidung haben
diese Kinder keine Möglichkeit mehr, durch positive Erfahrungen die von
den Eltern übernommenen Einstellungen zu überprüfen und ihre Vorurteile
zu korrigieren. So kommt es zur Verstärkung ihrer psychischen Störungen.
In instabilen oder von Trennung bedrohten Familien, in denen Konflikte
unterdrückt werden, kann das gemeinsame Feindbild von bedrohlichen Hunden
stabilisierend wirken: Eigene als negativ und bedrohlich erlebte
Eigenschaften wie Aggressivität oder Wildheit können auf Hunde projiziert
und in ihnen gehasst und bestraft werden.
Man braucht keine Phantasie, um sich den dauerhaften Schaden für die
Entwicklung eines Kindes vorzustellen, wenn es den Trennungsschmerz
erleben muss, dass der Hund, mit dem es aufgewachsen ist, von den Eltern
aus Angst vor nachbarschaftlichen Repressalien ins Tierheim gegeben wird,
dort leidet oder eingeschläfert wird, weil er den Wesenstest nicht
bestanden hat.
Hier sind mit hoher Wahrscheinlichkeit depressive Reaktionen die Folge,
Misstrauen und Wut auf die Eltern und langfristige Schuldgefühle, den
geliebten Kameraden nicht geschützt zu haben. In welche Konflikte geraten
solche Kinder, die in der Schule in speziellen Trainings lernen,
Konflikte aggressionsfrei und konstruktiv zu lösen, die aber in den
aktuellen Auseinandersetzungen Zeugen oder Mitbetroffene von verbaler
Gewalt und aggressiver Willkür werden?
Es ist zu befürchten, dass Familien mit kleinen Kindern aus Angst
vermehrt darauf verzichten werden, einen Hund anzuschaffen. So werden
viele Kinder nicht mehr den positiven Einfluss von Tieren erleben, nicht
mehr spielerisch im Umgang mit ihnen Sozialverhalten, Verantwortung und
Rücksichtnahme erlernen.
"Lieben Sie Kinder oder Köter?" Menschen- contra Tierschutz
Die derzeitige Hysterie vergiftet das soziale Klima auf den Straßen
zwischen Hundehaltern und Hundegegnern. In Großstädten trauen sich
Halterinnen und Halter großer Hunde mit ihren Tieren tagsüber oft nicht
mehr auf die Straße. Sie fürchten sich vor dem plötzlichen Hass, der
ihnen von vielen Menschen entgegenschlägt. Hundehalter klagen auch in
Klein- und Mittelstädten, sie würden angespuckt, beschimpft ("Weshalb
läuft die Kampftöle noch ohne Maulkorb? Warum ist das Miststück noch
nicht eingeschläfert?") und bedroht. Ihre Tiere, auch Hunde ganz
unterschiedlicher Größe, wenn sie farblich "Kampfhunden" ähneln, werden
mit Stöcken und Latten geschlagen. In R., einer Kleinstadt, entriss eine
Gruppe junger Männer einer Spaziergängerin ihren angeleinten
Staffordshire-Terrier, übergoss ihn mit Benzin und verbrannte ihn vor den
Augen der Halterin.
Solche Erlebnisse traumatisieren langfristig, und das umso mehr, wenn
Personen, die bereits früher Opfer anderer Straf- oder Gewalttaten
geworden sind, durch das (Mit-) Erleben aggressiver Übergriffe von
Mitbürgern erneut traumatisiert werden; frühere Traumata werden verstärkt
reaktiviert.
Die Gefahr schwerer Zwischenfälle steigt in der aggressionsgeladenen
Atmosphäre der Großstädte auch, weil viele jüngere "Kampfhundehalter" aus
sozialen Randgruppen selbst schon früh traumatisiert wurden und bei
Angriffen gegen sich und ihre Tiere häufig schlagartig überreagieren.
Immer wieder wird von "völlig grundlosen" Angriffen von Hunden auf
Passanten berichtet. In der zurzeit spannungsgeladenen Atmosphäre auf den
Straßen signalisieren Angst und Anspannung vieler Halter ihren Tieren
permanente Gefahr. Gerade Schutzhunde werden aktiviert, auf die Bedrohung
zu reagieren. Daher eskalieren viele der zwischenmenschlichen
Konfliktsituationen, aus hundlicher Sicht völlig zu Recht, schneller zu
Angriffssituationen.
Viele große Hunde werden nur noch bei Dunkelheit "Gassi geführt".
Etikettieren und Polarisieren führen dazu, dass tierisches Verhalten von
vielen bisher gelassen reagierenden Bürgerinnen und Bürgern nicht mehr
differenziert als angenehm oder lästig, sondern als gefährlich eingestuft
wird. Polizeibeamte klagen über Zusatzbelastungen, weil sie viel häufiger
als früher in Parks gerufen werden, weil dort die spielenden Hunde von
Nichtsesshaften angeblich Kinder bedrohen.
Nachbarschaftsstreitigkeiten werden vermehrt über Hunde ausgelebt,
harmlose Vorfälle dramatisiert, bei Zerwürfnissen nimmt aufgrund der
verringerten Kommunikation die Bereitschaft zu Mobbing, Diffamierung und
Anzeigen zu. Familien mit so genannten Kampfhunden sind vermehrt von
Kündigung bedroht. >
Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder
Schäden zufügen (§ 2 Tierschutzgesetz)
So wenig wie das menschliche Leid darf das Leiden der tierischen
Mitgeschöpfe als Folge der unsachlich geführten Debatten und übereilt
entworfenen Verordnungen in den einzelnen Bundesländern vergessen werden.
Selbst hochrangige Vertreter politischer Parteien, die Natur- und
Umweltschutz betonen, lassen durch radikale Maßnahmen derzeit die
Tatsache außer Acht, dass unsere Welt ein vernetztes, hochsensibles
System ist, in dem jedes Lebewesen schutzwürdig ist und in dem
willkürliche Eingriffe viel mehr Wesen als die direkt betroffenen
schädigen.
Die übereilt entworfenen Verordnungen lassen wichtige Passagen des
Tierschutzgesetzes unberücksichtigt:
- Wolfgang Apel, Vorsitzender des Deutschen Tierschutzbundes, fragt,
was mit den 50.000 abgegebenen, aufgegriffenen, beschlagnahmten
"Kampfhunden" und großen Hunden anderer Rassen und Mischlinge, die in
den 500 völlig überfüllten Tierheimen dahinvegetieren, geschehen solle.
Die Tierheime weigern sich, zu Schlachthöfen zu werden. Auch die
Verfasser der Verordnungen der Bundesländer wissen, dass das
Tierschutzgesetz vorrangig zu beachten und die Berechtigung zur Tötung
aller Hunde, die den Wesenstest nicht bestehen, sehr fraglich ist.
- Völlig unberücksichtigt scheinen auch die Faktoren, die das
Ergebnis des so genannten Wesenstests beeinflussen können, für den es
bisher nur Entwürfe, aber keine Ausführungsbestimmungen gibt. Die meist
sehr weite Fahrt zu den Testorten, in Niedersachsen zum Beispiel zur
Tierärztlichen Hochschule Hannover, die fremde Umgebung mit vielen
unbekannten Stressreizen stellen für viele Hunde schon eine unzumutbare
Belastung dar, die besonders durch die hochgradige Erregung der Halter
und deren Affekte wie Angst, Wut und Trauer zur äußerst bedrohlichen
Situation wird. In dieser ungünstigen Ausgangslage ist zu erwarten,
dass viele Tiere unter der extremen Anspannung nicht das wesensfeste
Verhalten zeigen werden, das sie in normalen Belastungssituationen
zeigen. Daher geraten die Eignungstests, auch angesichts der hohen
Kosten, schon jetzt leicht in den Verdacht, eine hohe Selektionsrate
zum Ziel zu haben. Was geschieht daher letztlich mit einem Hund, der
den Wesenstest nicht besteht, und wer ersetzt einem Halter den
materiellen Schaden, wenn sein Tier nicht aufgrund einer konkreten
Gefährdung beschlagnahmt worden ist?
- Die überfüllten Tierheime können ihrer originären Aufgabe nicht
mehr gerecht werden, Fund- und Abgabehunde aufzunehmen und
weiterzuvermitteln. Ungeklärt ist bisher auch in mehreren
Bundesländern, ob abgegebene oder beschlagnahmte "Kampfhunde" an
geeignete neue Halter weitervermittelt werden dürfen.
- Verwirrung entsteht für Ordnungsbehörden und Hundehalter auch
dadurch, dass zum Beispiel in Niedersachsen die Verordnung über das
Halten gefährlicher Tiere vom 05.07.00 nicht mit allen kommunalen
Verordnungen identisch ist: In manchen von ihnen werden Rottweiler und
Dobermann nämlich nicht als "Kampfhunde" deklariert.
Heute Pitbull, morgen Retriever
Es wird gerade in Ballungsgebieten schwierig sein, nach Hetze und
Hysterie wieder zu einem friedlichen Miteinander zu kommen, Angst und
Feindbilder abzubauen und das Vertrauen, das viele Menschen derzeit aus
unterschiedlichen Gründen in die politisch Verantwortlichen verloren
haben, wieder herzustellen, denn die bösen Erinnerungen werden bleiben.
Es bleibt auch die Angst, dass, wenn die Themen wechseln und sich
politische Spannungen verstärken, andere Gruppen Zielscheibe kollektiver
Aggression werden.
Deshalb ist jetzt Versachlichung nötig, Augenmaß, Ruhe und Sachverstand.
Wichtig ist, dass Menschen und Tiere vor aggressiven Hunden besser
geschützt werden, denn jeder Hund ist potenziell gefährlich und kann zur
Waffe abgerichtet werden. Statt Massentötungen müssen die neuen Gesetze
bundeseinheitlich in Zusammenarbeit mit Fachleuten überarbeitet und
Gesetzgebungsfristen verlängert werden, um weitere Schäden durch
unsinnige Hektik zu vermeiden. Die deutschen Tierärzte und
Tierschutzorganisationen fordern:
- statt Einstufung von Tieren in "Kampfhundlisten" individuelle
Beurteilung nach rasseneutralen Kriterien,
- Überprüfung und Beratung von Hundehaltern, Forderung von Fach- und
Sachkundekundenachweisen (Hundeführschein),
- qualifizierte Wesensüberprüfungen bei Tieren, die der Zucht dienen,
- Erlass eines Heimtierzuchtgesetzes zur Schließung von
Gesetzeslücken, um Zucht, Haltung und Import von Hunden zu
regulieren.Genauso wichtig aber sind
- Aufklärung in Schulen und Kindergärten über Grundlagen gelungener
Kommunikation von Mensch und Hund und eigensicherndes Verhalten,
- verstärkte Maßnahmen zur Integration arbeitsloser in- und
ausländischer Jugendlicher in Ballungsgebieten, um der Gefahr zu
begegnen, dass Hunde als Ersatz für fehlendes Selbstbewusstsein
missbraucht werden.
Im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg hat sich die Bürgerschaft, die zu
50 Prozent aus ausländischen Mitbürgern besteht; nach Volkans Tod
entschlossen, auf Rache und Diskriminierung der Täter zu verzichten und
die Integrationsmaßnahmen für auffällig gewordene Jugendliche und junge
Erwachsene gemeinsam zu verstärken.
(aus
DEUTSCHE POLIZEI 8/2000)
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