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Gesellschaft
Hassobjekt Hund
 

Von Eva-Maria Wiegel

Der folgende Beitrag befasst sich mit Hintergründen und Auswirkungen der gegenwärtig völlig überhitzten "Kampfhunddebatte" und zeigt langfristige Schäden auf, die leider kaum bedacht werden: Entwicklungsstörungen an Kindern durch Verunsicherung, Hysterie und Panik in Familien, soziale Spannungen, die durch die Polarisierung und Diskriminierung entstanden, und die Schwierigkeit der Zuständigen, der tatsächlichen Gefahr durch aggressive "Kampfhunde" und deren oft kriminelle Halter Herr zu werden. Schon in DEUTSCHE POLIZEI 5/89 hatte die Verfasserin im Beitrag "Killer und Kuscheltiere" auf die Gefahren hingewiesen, die von den "Waffen mit den tonnenstarken Schnappschlossgebissen", den hochaggressiven Statussymbolen meist krimineller Halter aus dem Milieu ausgehen, und Techniken beschrieben, mit denen durch genetische Auslese von Tieren mit niedriger Hemmschwelle und brutale Trainingsmethoden tierische Psychopathen werden, Spiegelbilder ihrer Halter.

Killer außer Kontrolle - sie morden, hetzen, reißen ... .


"Angst vor den Beiß-Bestien", "Killer-Kampfhunde wüten in Deutschland" ... so und ähnlich titelten wochenlang Boulevardblätter und bisher seriöse Tages- und Wochenzeitungen gleichermaßen auf niedrigstem Niveau. Zahlreiche Journalisten und Moderatoren, die dazu beitragen, die Emotionen täglich anzuheizen, vermischen unkritisch eigene Emotionen mit Fakten, fordern einträchtig das Ausrotten, Einschläfern, Kastrieren und Wegsperren der Killerbestien, aller Hunde der so unselig als "Kampfhunde" etikettierten und verteufelten Rassen und deren Abkömmlinge. Doch damit nicht genug - selbst bisher unbescholtene Rassen geraten, abhängig von Größe und Gewicht, mit in Verruf, unberechenbare potenzielle Waffen in den Händen ihrer Halterinnen und Halter zu sein. Führende Politiker aller Parteien nutzen die aufgeheizte Debatte für kraftvolle Selbstdarstellungen und versprechen Abhilfe durch schnelle Verordnungen.

Für viele Besonnene ist die entstandene Hysterie, die den Volkszorn nährt, unerklärlich. Es scheint, dass die Aufheizung der Emotionen durch Medien und Politiker gerade zu diesem Zeitpunkt tiefere Ursachen hat. In der gegenwärtigen Situation, in der viele Bundesbürger zunehmend unzufriedener sind mit dem Verhalten von Politikern und mit sozial- und arbeitsmarktpolitischen Entwicklungen, ist es politisch taktisch geschickt, die frustrationsbedingte Aggressivität umzuleiten und gegen ein gemeinsames Feindbild zu richten, um der Bevölkerung politische Stärke, Handlungswillen und Kompetenz der Zuständigen zu signalisieren. Hunde eignen sich besonders als Hassobjekte, weil sich durch die tragischen Ereignisse und die reißerische Berichterstattung die Urangst der Menschen vor der unbezähmbaren wölfischen Kreatur leicht mobilisieren lässt.

Der kollektive Ruf nach Schutz von Menschen, speziell von Kindern, ist sehr berechtigt, aber es macht misstrauisch, dass die öffentliche Empörung ausblieb, als fast zeitgleich mit dem Tod Volkans sechs Kinder aus verschiedenen Familien nach Elternstreitigkeiten von ihren Vätern im Schlaf umgebracht wurden - was leider kein Einzelgeschehen mehr ist - und als in den neuen Bundesländern immer wieder ausländische Mitbürger bestialisch ermordet wurden.

Auch ist die immer wieder betonte Aussage vieler Verantwortlicher verdächtig und unverantwortlich, es könne bei den notwendigen Maßnahmen zum Schutz von Menschen, vor allem von Kindern, weniger um die Maßregelung der Halter gehen als um die Beseitigung gefährlicher Hunde: Im vergangenen Jahr starben (nach vorläufigen Angaben des Statistischen Bundesamtes) in Deutschland 318 Kinder im Straßenverkehr, 48.838 wurden verletzt. Den Blick primär auf die Hunde statt auf die unfähigen beziehungsweise kriminellen Halter aggressiver Tiere zu lenken ist so, als würde der Gesetzgeber einem PKW-Fahrer, der mit überhöhter Geschwindigkeit die Gefährdung von Menschen in Kauf nimmt, lediglich das PS-starke Fahrzeug wegnehmen, um ihn an weiteren Verkehrsgefährdungen zu hindern.

Leider wird in der oft reißerischen Berichterstattung fast immer verschwiegen, dass, wie in Hamburg, aggressive Hunde meist auf Befehl oder mit Billigung ihrer Halter gehandelt haben.

Hilflose Maßnahmen mit schlimmen Folgen: das Problem am oberen Ende der Leine

Der Tod des kleinen Volkan und die oft grausam entstellten Opfer aggressiver Hunde sind allerdings nur die letzten tragischen Ereignisse in einer langen, traurigen Statistik.

Unbestritten ist, dass ein Teil der jetzt auch als "Kampfhunde" diskriminierten Rassen wie Rottweiler oder Dobermänner seit Jahrzehnten in vielen Sicherheitsbereichen wertvolle Arbeit als Schutz-, Wach- und Spürhunde tun. Damit bescheinigte der Gesetzgeber diesen Rassen doch, wenn sie tierschutzgerecht und verantwortungsbewusst gehalten werden, seit langem die Unbedenklichkeit. Seit Jahrzehnten aber fordern Tierärzte, Fachleute aus Tierschutzorganisationen und seriösen Zuchtverbänden schärfere Einfuhr- und Zuchtkontrollbestimmungen für Hunde aller Rassen, beklagen Polizeibeamte die Gefährdung durch aggressive Hunde zum Beispiel bei Personenkontrollen oder Haus- und Wohnungsdurchsuchungen. Lange schon ist bekannt, dass "Kampfhunde" zunehmend häufiger als Prestigeobjekte und Waffen im subkulturellen Milieu der deutschen Großstädte auch von jungen, arbeitslosen in- und ausländischen Männern eingesetzt werden. Auch Zuchtverbände ließen es tatenlos geschehen, dass in Inseraten ihrer Verbandszeitungen gewissenlose Hundevermehrer ungeniert mit der "Kehlschärfe ihrer Produkte" warben. Seit langem ist bekannt, dass Polizeibeamte mit der Überwachung der Einhaltung der Gefahrtierverordnung personell, von der Ausbildung und technischen Ausrüstung her überfordert waren.

Viele Kommunen führten zur Reduzierung der als "Kampfhunde" aufgeführten Rassen nach dem Bericht des Deutschen Städtetages und entsprechenden Verwaltungsgerichtsurteilen die "Kampfhundsteuer" ein. Diese willkommene Erhöhung kommunaler Steuereinnahmen führte bundesweit vielfach zum gegenteiligen Effekt: Da gerade in Großstädten viele Hunde der betreffenden Rassen nicht angemeldet waren oder ihre Besitzer von der Sozialhilfe lebten, führte die Maßnahme vorrangig zur Diskriminierung seriöser Hundehalter und ihrer Tiere und zur Verbreitung von Angst in der Bevölkerung.

Weniger Betuchte konnten ihre Hunde nicht mehr halten, brachten sie ins Tierheim, andere gaben ihre unbescholtenen Hunde unter dem Druck von Hauswirten und Wohnungsnachbarn ab.

Halter aus dem Milieu aber sahen in der Sondersteuer einen willkommenen Prestigezuwachs, aus dem sie weitere Rechte für antisoziale Verhaltensweisen ableiteten.

Unklar ist jetzt auch für Verwaltungsleiter der Gefahrenabwehrbehörden und Polizeibeamte, ob und wie sich die neuen "Kampfhundverordnungen" sinnvoll durchsetzen lassen können, denn es gibt Hinweise darauf, dass sie ihre Ziele nur sehr unbefriedigend erreichen:

a) Wer ist behördlicherseits überhaupt in der Lage, Mischlinge einwandfrei zu identifizieren, falls der Halter keinen bzw. einen falschen Abstammungsnachweis erbringt?

b) Viele Halter aggressiver Tiere der Gefahrgruppe 1 haben ihre Hunde gar nicht angemeldet und können nicht erfasst werden, falls sie nicht durch Dritte denunziert werden, was im Milieu kaum zu erwarten ist.

In Berlin spotten Halter aggressiver Hunde, sie würden abwarten, bis "das Gewitter vorbei" sei. Manche erhöhen jetzt an den informellen "Kampfhundbörsen" der Großstädte ihren Bestand, ehe der Nachschub rar und teurer wird, oder weichen längst auf andere Hunderassen aus, denn mit brutalen Methoden wie Schlägen, Isolation und Verstümmelung vom Welpenalter an kann jeder Hund über den unbedingten Gehorsam zur tödlichen Waffe werden.

Manche weichen in die neuen Bundesländer aus, um auf einsamen Resthöfen ungestört Nachschub weiterzüchten und trainieren zu können. Halter beschlagnahmter Hunde engagieren Mittelsmänner mit Unbedenklichkeitszeugnissen, um ihre Hunde aus den Tierheimen wiederzubeschaffen, die dann als vermisst gemeldet werden.

Kriminelle Halter werden sich Unbedenklichkeitsbescheinigungen, Papiere und Leuchtplaketten wie in Berlin durch Diebstahl oder Kauf verschaffen.

Sie interpretieren die Maulkorbpflicht als Statussymbol und trainieren ihre Kampfmaschinen weiterhin tagsüber in öffentlichen Parks, vermehrt unter Einsatz gestohlener Hunde und Katzen aus Privatbesitz, die als Trainingsopfer eingesetzt und zerfleischt von Passanten gefunden werden.

Unsichtbare Schäden: Tierschutz ist auch Kinderschutz

Aus dem Schmusehund in der Werbung, dem Superhund der TV-Folgen, dem freundlichen Nachbarshund ist für viele Kinder mit einem Mal die Bestie geworden, die auf morden aus ist. Die zahllosen Bilder von zähnestarrenden, aufgerissenen Rachen und geifernden Muskelpaketen, die sich mit blutunterlaufenen Augen in eiserne Gitterstäbe verbeißen, die Fotos der erschossenen Hunde neben dem toten Kind, die Bilder bis zur Unkenntlichkeit entstellter menschlicher Gesichter verängstigen gerade jüngere Kinder, die noch nicht zwischen Realität und Fernsehen unterscheiden, und können zu nächtlichen Alpträumen, Panikattacken, Hundephobien, zu Unruhe und erhöhter Aggressivität führen.

Aus der starken Verunsicherung, durch Panikmache und Sensationsgier verursacht, entsteht durch das Gefühl der Schutzlosigkeit leicht übersteigerte Angst, vor allem wenn die Angst, wie das häufig geschieht, auf alle Hunderassen generalisiert wird. Kindertherapeuten wissen, dass es meist nicht die Kinder sind, die zuerst Ängste haben, sondern dass ihre Eltern sie übertragen.

Erleben Kinder ihre Eltern als grundlegend verunsichert, entwickelt sich beim Kind das Gefühl starker, andauernder Bedrohung, denn gerade kleine Kinder sind in Vorstellungen, im Fühlen und Handeln sehr abhängig von elterlichen Gefühlen und Einstellungen. Es ist bekannt, dass Kinder Extremsituationen wie Kriege und Katastrophen schadlos überstehen, wenn sie an ihren Eltern ein Grundvertrauen zur Umwelt erleben.

Speziell Eltern mit hohem Angstniveau und hoher Aggressivitätshemmung versuchen, ihre Kinder möglichst vor allen potenziell gefährlichen Alltagssituationen zu bewahren, doch derart überbehütete Kinder haben kaum eine Chance, ihre Umwelt eigenständig zu erkunden und lebenstüchtig zu werden, indem sie lernen, mit Risiken selbstsicher, flexibel und angemessen umzugehen.

Vermeiden ist jedoch eine nur sehr bedingt taugliche Form der Angstbewältigung, und es ist unmöglich, Hunden im normalen Alltag nicht zu begegnen. Zudem besteht durch angstvolles Weglaufen vor Hunden die Gefahr, deren Jagdinstinkt auszulösen und zum Opfer zu werden.

Überängstliche Eltern neigen oft zu überzogenen Sicherheitsforderungen an Behörden, erwarten von ihnen möglichst alle Lebensrisiken auszuschalten, wie im gerade veröffentlichten Vorwurf eines Stadtelternrates: "... es ist an kaum einer der städtischen Schulen das Schulgelände derart abgesichert, dass die Wiederholung eines solch tragischen Falles wie in Hamburg mit größter Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden könnte ..."

In Familien, die sich extrem bedroht und ungeschützt fühlen, kommt es leicht zu angstbedingten Wahrnehmungsverzerrungen aller Mitglieder. Reißerische Medienberichte über Angriffe von Tieren auf Menschen bestärken und verfestigen die gemeinsamen Vorurteile.

Für solche Familien sind Berichte über das Verhalten traumatisierter Eltern, deren Kinder Opfer von Hundeangriffen geworden sind, Vorbild und Verstärker: Durch Rückzug aus der Umwelt und Kontaktvermeidung haben diese Kinder keine Möglichkeit mehr, durch positive Erfahrungen die von den Eltern übernommenen Einstellungen zu überprüfen und ihre Vorurteile zu korrigieren. So kommt es zur Verstärkung ihrer psychischen Störungen.

In instabilen oder von Trennung bedrohten Familien, in denen Konflikte unterdrückt werden, kann das gemeinsame Feindbild von bedrohlichen Hunden stabilisierend wirken: Eigene als negativ und bedrohlich erlebte Eigenschaften wie Aggressivität oder Wildheit können auf Hunde projiziert und in ihnen gehasst und bestraft werden.

Man braucht keine Phantasie, um sich den dauerhaften Schaden für die Entwicklung eines Kindes vorzustellen, wenn es den Trennungsschmerz erleben muss, dass der Hund, mit dem es aufgewachsen ist, von den Eltern aus Angst vor nachbarschaftlichen Repressalien ins Tierheim gegeben wird, dort leidet oder eingeschläfert wird, weil er den Wesenstest nicht bestanden hat.

Hier sind mit hoher Wahrscheinlichkeit depressive Reaktionen die Folge, Misstrauen und Wut auf die Eltern und langfristige Schuldgefühle, den geliebten Kameraden nicht geschützt zu haben. In welche Konflikte geraten solche Kinder, die in der Schule in speziellen Trainings lernen, Konflikte aggressionsfrei und konstruktiv zu lösen, die aber in den aktuellen Auseinandersetzungen Zeugen oder Mitbetroffene von verbaler Gewalt und aggressiver Willkür werden?

Es ist zu befürchten, dass Familien mit kleinen Kindern aus Angst vermehrt darauf verzichten werden, einen Hund anzuschaffen. So werden viele Kinder nicht mehr den positiven Einfluss von Tieren erleben, nicht mehr spielerisch im Umgang mit ihnen Sozialverhalten, Verantwortung und Rücksichtnahme erlernen.

"Lieben Sie Kinder oder Köter?" Menschen- contra Tierschutz

Die derzeitige Hysterie vergiftet das soziale Klima auf den Straßen zwischen Hundehaltern und Hundegegnern. In Großstädten trauen sich Halterinnen und Halter großer Hunde mit ihren Tieren tagsüber oft nicht mehr auf die Straße. Sie fürchten sich vor dem plötzlichen Hass, der ihnen von vielen Menschen entgegenschlägt. Hundehalter klagen auch in Klein- und Mittelstädten, sie würden angespuckt, beschimpft ("Weshalb läuft die Kampftöle noch ohne Maulkorb? Warum ist das Miststück noch nicht eingeschläfert?") und bedroht. Ihre Tiere, auch Hunde ganz unterschiedlicher Größe, wenn sie farblich "Kampfhunden" ähneln, werden mit Stöcken und Latten geschlagen. In R., einer Kleinstadt, entriss eine Gruppe junger Männer einer Spaziergängerin ihren angeleinten Staffordshire-Terrier, übergoss ihn mit Benzin und verbrannte ihn vor den Augen der Halterin.

Solche Erlebnisse traumatisieren langfristig, und das umso mehr, wenn Personen, die bereits früher Opfer anderer Straf- oder Gewalttaten geworden sind, durch das (Mit-) Erleben aggressiver Übergriffe von Mitbürgern erneut traumatisiert werden; frühere Traumata werden verstärkt reaktiviert.

Die Gefahr schwerer Zwischenfälle steigt in der aggressionsgeladenen Atmosphäre der Großstädte auch, weil viele jüngere "Kampfhundehalter" aus sozialen Randgruppen selbst schon früh traumatisiert wurden und bei Angriffen gegen sich und ihre Tiere häufig schlagartig überreagieren. Immer wieder wird von "völlig grundlosen" Angriffen von Hunden auf Passanten berichtet. In der zurzeit spannungsgeladenen Atmosphäre auf den Straßen signalisieren Angst und Anspannung vieler Halter ihren Tieren permanente Gefahr. Gerade Schutzhunde werden aktiviert, auf die Bedrohung zu reagieren. Daher eskalieren viele der zwischenmenschlichen Konfliktsituationen, aus hundlicher Sicht völlig zu Recht, schneller zu Angriffssituationen.

Viele große Hunde werden nur noch bei Dunkelheit "Gassi geführt". Etikettieren und Polarisieren führen dazu, dass tierisches Verhalten von vielen bisher gelassen reagierenden Bürgerinnen und Bürgern nicht mehr differenziert als angenehm oder lästig, sondern als gefährlich eingestuft wird. Polizeibeamte klagen über Zusatzbelastungen, weil sie viel häufiger als früher in Parks gerufen werden, weil dort die spielenden Hunde von Nichtsesshaften angeblich Kinder bedrohen.

Nachbarschaftsstreitigkeiten werden vermehrt über Hunde ausgelebt, harmlose Vorfälle dramatisiert, bei Zerwürfnissen nimmt aufgrund der verringerten Kommunikation die Bereitschaft zu Mobbing, Diffamierung und Anzeigen zu. Familien mit so genannten Kampfhunden sind vermehrt von Kündigung bedroht. >

Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen (§ 2 Tierschutzgesetz)

So wenig wie das menschliche Leid darf das Leiden der tierischen Mitgeschöpfe als Folge der unsachlich geführten Debatten und übereilt entworfenen Verordnungen in den einzelnen Bundesländern vergessen werden.

Selbst hochrangige Vertreter politischer Parteien, die Natur- und Umweltschutz betonen, lassen durch radikale Maßnahmen derzeit die Tatsache außer Acht, dass unsere Welt ein vernetztes, hochsensibles System ist, in dem jedes Lebewesen schutzwürdig ist und in dem willkürliche Eingriffe viel mehr Wesen als die direkt betroffenen schädigen.

Die übereilt entworfenen Verordnungen lassen wichtige Passagen des Tierschutzgesetzes unberücksichtigt:

  • Wolfgang Apel, Vorsitzender des Deutschen Tierschutzbundes, fragt, was mit den 50.000 abgegebenen, aufgegriffenen, beschlagnahmten "Kampfhunden" und großen Hunden anderer Rassen und Mischlinge, die in den 500 völlig überfüllten Tierheimen dahinvegetieren, geschehen solle. Die Tierheime weigern sich, zu Schlachthöfen zu werden. Auch die Verfasser der Verordnungen der Bundesländer wissen, dass das Tierschutzgesetz vorrangig zu beachten und die Berechtigung zur Tötung aller Hunde, die den Wesenstest nicht bestehen, sehr fraglich ist.
  • Völlig unberücksichtigt scheinen auch die Faktoren, die das Ergebnis des so genannten Wesenstests beeinflussen können, für den es bisher nur Entwürfe, aber keine Ausführungsbestimmungen gibt. Die meist sehr weite Fahrt zu den Testorten, in Niedersachsen zum Beispiel zur Tierärztlichen Hochschule Hannover, die fremde Umgebung mit vielen unbekannten Stressreizen stellen für viele Hunde schon eine unzumutbare Belastung dar, die besonders durch die hochgradige Erregung der Halter und deren Affekte wie Angst, Wut und Trauer zur äußerst bedrohlichen Situation wird. In dieser ungünstigen Ausgangslage ist zu erwarten, dass viele Tiere unter der extremen Anspannung nicht das wesensfeste Verhalten zeigen werden, das sie in normalen Belastungssituationen zeigen. Daher geraten die Eignungstests, auch angesichts der hohen Kosten, schon jetzt leicht in den Verdacht, eine hohe Selektionsrate zum Ziel zu haben. Was geschieht daher letztlich mit einem Hund, der den Wesenstest nicht besteht, und wer ersetzt einem Halter den materiellen Schaden, wenn sein Tier nicht aufgrund einer konkreten Gefährdung beschlagnahmt worden ist?
  • Die überfüllten Tierheime können ihrer originären Aufgabe nicht mehr gerecht werden, Fund- und Abgabehunde aufzunehmen und weiterzuvermitteln. Ungeklärt ist bisher auch in mehreren Bundesländern, ob abgegebene oder beschlagnahmte "Kampfhunde" an geeignete neue Halter weitervermittelt werden dürfen.
  • Verwirrung entsteht für Ordnungsbehörden und Hundehalter auch dadurch, dass zum Beispiel in Niedersachsen die Verordnung über das Halten gefährlicher Tiere vom 05.07.00 nicht mit allen kommunalen Verordnungen identisch ist: In manchen von ihnen werden Rottweiler und Dobermann nämlich nicht als "Kampfhunde" deklariert.

Heute Pitbull, morgen Retriever

Es wird gerade in Ballungsgebieten schwierig sein, nach Hetze und Hysterie wieder zu einem friedlichen Miteinander zu kommen, Angst und Feindbilder abzubauen und das Vertrauen, das viele Menschen derzeit aus unterschiedlichen Gründen in die politisch Verantwortlichen verloren haben, wieder herzustellen, denn die bösen Erinnerungen werden bleiben. Es bleibt auch die Angst, dass, wenn die Themen wechseln und sich politische Spannungen verstärken, andere Gruppen Zielscheibe kollektiver Aggression werden.

Deshalb ist jetzt Versachlichung nötig, Augenmaß, Ruhe und Sachverstand. Wichtig ist, dass Menschen und Tiere vor aggressiven Hunden besser geschützt werden, denn jeder Hund ist potenziell gefährlich und kann zur Waffe abgerichtet werden. Statt Massentötungen müssen die neuen Gesetze bundeseinheitlich in Zusammenarbeit mit Fachleuten überarbeitet und Gesetzgebungsfristen verlängert werden, um weitere Schäden durch unsinnige Hektik zu vermeiden. Die deutschen Tierärzte und Tierschutzorganisationen fordern:

  • statt Einstufung von Tieren in "Kampfhundlisten" individuelle Beurteilung nach rasseneutralen Kriterien,
  • Überprüfung und Beratung von Hundehaltern, Forderung von Fach- und Sachkundekundenachweisen (Hundeführschein),
  • qualifizierte Wesensüberprüfungen bei Tieren, die der Zucht dienen,
  • Erlass eines Heimtierzuchtgesetzes zur Schließung von Gesetzeslücken, um Zucht, Haltung und Import von Hunden zu regulieren.Genauso wichtig aber sind
  • Aufklärung in Schulen und Kindergärten über Grundlagen gelungener Kommunikation von Mensch und Hund und eigensicherndes Verhalten,
  • verstärkte Maßnahmen zur Integration arbeitsloser in- und ausländischer Jugendlicher in Ballungsgebieten, um der Gefahr zu begegnen, dass Hunde als Ersatz für fehlendes Selbstbewusstsein missbraucht werden.

Im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg hat sich die Bürgerschaft, die zu 50 Prozent aus ausländischen Mitbürgern besteht; nach Volkans Tod entschlossen, auf Rache und Diskriminierung der Täter zu verzichten und die Integrationsmaßnahmen für auffällig gewordene Jugendliche und junge Erwachsene gemeinsam zu verstärken.

(aus DEUTSCHE POLIZEI 8/2000)
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